Meine älteste Freundin ist 71 Jahre alt. Sie hat schneeweiße lange Haare, eine markante schwarze Brille, ist sehr gepflegt und trägt klassisch eine weiße Bluse und Edeljeans, die wahrscheinlich mehr kosten, als ich in einem Monat für meine Miete ausgebe. Ihr Leben ist geprägt von ihrem Hund, einem kleinen schwarzen Fellknäuel mit Knopfaugen, vielen Tassen Kaffee, der neuesten Creme für reifere Haut, ihren Enkeln und dem Wunsch, nicht mehr bei jedem vorgeschlagenen Update den Computer-Techniker holen zu müssen.
Wir haben uns in der Corona-Zeit kennengelernt. Pünktlich auf die Minute wartete meine Freundin an einem stürmischen Herbsttag in einem lauschigen kleinen Café auf mich, während ich wiedermal die Zeit unterschätzt hatte, die es braucht, um mit einem alten Drahtesel, der unattraktiv genug ist, um keinem Dieben mehr zum Opfer zu fallen, von A nach B zu kommen. Gott sei Dank sah mir meine Freundin sowohl meine Unpünktlichkeit, als auch meine zerzausten Haare nach und mit der Zeit wurden aus der ersten gemeinsamen Tasse Kaffee viele gemeinsam verbrachte Stunden.
Wir unterhalten uns über vieles. Wir sprechen über ihre Vergangenheit, bereiste Länder, meine Ideen vom Leben und ihren Erfahrungen dazu. Sie legt mir ans Herz, dass man als Dame nie vergessen sollte, einen Tropfen Parfum auf den Fußknöchel aufzutragen, weil dann der zarte Hauch einer Bewegung schon betörenden Duft verströmen kann und erzählt mir, wie Gott ihr eigenes Bild von sich als Frau revolutioniert hat. Ich kann viel lernen von meiner Freundin, mit ihr über das Leben lachen und im nächsten Moment weinen. Es erstaunt mich jedes Mal, wie viel Vertrauen sie mir entgegenbringt, wie sie über die Eigenheiten meiner Generation hinwegsieht, die gemeinsame Reflexion sucht und mich ein Gegenüber auf Augenhöhe sein lässt.
Ich selbst bin eher dörflich aufgewachsen. Bei uns war es Gang und Gebe, dass drei Generationen unter einem Dach wohnten und wir waren die erste Generation, für die es ganz selbstverständlich schien, dass wir in die weite Welt ziehen, um zu studieren, flügge zu werden und uns auch auf große Distanzen räumlich zu lösen. Vor allem im Laufe der letzten zwei Jahre erlebe ich aber verstärkt, wie genau diese Brücken zwischen den Generationen, die wir damals zugunsten des eigenen Lebensweges so fleißig eingerissen haben, an manchen Stellen fehlen. So genervt man früher schnell war, wenn bei jedem Anruf betont wurde, wie lange man schon wieder nicht mehr zuhause war und dass ja bald der nächste runde Geburtstag in der Familie ansteht, so nachdenklich stimmt mich das heute.
Denn abgesehen davon, dass wir unsere Eltern ehren sollen und unsere gesamte Gesellschaft sich vor langer Zeit auf den „Generationenvertrag“ geeinigt hat, der uns sozialwirtschaftlich absichern sollte, stelle ich mir die Frage: Was schulden sich die Generationen? Rein menschlich? Und geistlich?
Es gibt eine Theorie, die besagt, dass abhängig von den vorherrschenden Erziehungstrends und dem zeitgleichen historischen Geschehen jede Generation ihre Narben davonträgt. Jeder, der irgendwo eine Narbe hat, der weiß, dass die Sensibilität der Haut an dieser Stelle nicht mehr so ist wie zuvor. Narben sind für uns also quasi wie Blind Spots. Bereiche, aus denen uns Informationen und Funktionen verloren gehen. Hat deine (Groß-)Mutter vielleicht auch immer den ganzen Keller voll mühsam eingemachter Lebensmittel gehortet, obwohl schon lange keine Gefahr mehr bestand, Hunger leiden zu müssen? Genau das ist so ein Blind Spot!
Wenn wir also drüber nachdenken, was wir einander „schulden“, sprich, welche Verantwortung wir füreinander haben, wie wir einander begegnen und dienen können, dann ist es meiner Meinung nach genau das, wovon Jakobus hier schreibt.
Die Voraussetzung, Dinge bekennen zu können, ist ein Gegenüber, dem man vertraut. Das interessiert ist. Das zuhört. Das aushält. Das bleibt, auch wenn die Geschichte nicht toll und die Erfahrungen nicht ruhmreich sind. Es braucht eine Ebene, auf der Authentizität die Basis und der Thron Gottes das Ziel ist. Dann können Narben sichtbar und Gottes heilende Kraft wirksam werden.
Ich glaube fest daran, dass wir als Frauen, egal ob wir natürliche, geistliche oder gar keine Kinder haben, völlig gleichgültig ob unsere Haut von Mitessern oder Falten übersäht ist, alle gemeinsam berufen sind, als Töchter des Höchsten zu erblühen. Und in diesem wunderbar bunten, manchmal chaotischen Prozess dürfen wir uns begleiten, anfeuern, aushalten, einander tragen und uns gegenseitig als Reflexionsfläche dienen. Wir dürfen einander erzählen, bekennen, Brücken zwischen den Generationen bauen, von einander lernen und gemeinsam den Thron Gottes bestürmen.
Ob du nun schon wie ich eine Freundin mit weißen Haaren und markanter schwarzer Brille hast oder du dir noch so eine Begegnung in einem Café wünschst: Lass dich von Blind Spots nicht irritieren! Sieh sie als willkommene Möglichkeit, um eine andere Frau beim Erblühen zu unterstützen und selber weiter aufblühen zu dürfen. Gemeinsam erblüht sich´s eben schöner!